Heimat Hallschlag
Cannstatt. 66 000 Einwohner. Ein Spaziergänger hat gut zu tun, will er halbwegs ein Gefühl dafür bekommen, wo er ist. Von einer Anhöhe des Kurparks aus kann ich den Killesberg sehen. Dazwischen im Tal liegt das, was man Stuttgart nennt, ohne zu ahnen, was zu dieser Stadt alles gehört. Als der scheidend e Asylpfarrer der Stadt, Werner Baumgarten, neulich sagte, die derzeit 3800 Flüchtlinge in Stuttgart seien in nur 17 von 152 Stadtteilen untergebracht, vermutete ich einen Schreibfehler. Und hatte mal wieder keine Ahnung. Es gibt tatsächlich 152 Stadtteile, allein im Bezirk Cannstatt 18. In der Gottfried-Daimler-Gedächtnisstätte, dem Gart enhaus im Kurpark, unterhalte ich mich mit Herrn Köble, dem charmanten Besucher-Betreuer. Neben uns steht der „Reitwagen“, der Nachbau des Motorrads, das Gottlieb Daimler zusammen mit Wilhelm Maybach entwickelt hat. Beide Pioniere sind auf dem Uff-Kirchhof begraben, einem der ältesten Friedhöfe Stuttgarts. Als ich nach dem Parkbesuch über den Friedhof gehe, sehe ich das Grab des revolutionären Dichters Ferdinand Freiligrath, gestorben 1876 an Herzversagen in seiner Cannstatter Stammkneipe Alte r Hasen. Das Gasthaus in der Neckartalstraße gibt es bis heute.
Cannstatt: Stuttgart-Juwel, unterschätztes Anhängsel mit großer Geschichte, einem echten Fluss und feinem Mineralwasser. Rund 30 Prozent der Cannstatter sind heute Auslände r. Seit langem schon kommen Migranten in den Ort, Kriegsflüchtlinge im 17. Jahr hundert, polnische Arbeiter in den Tabakfabriken des 19. Jahrhunderts, Zwangsarbeiter unter den Nazis (die Cannstatt 1933 in „Bad Cannstatt“ umtauften). Über den Umgang mit Fremden gibt es, wie immer im Schwäbischen, widersprüchlich Aussagen. In Jürgen Hagels wunderbarem Buch „Cannstatt und seine Geschichte“ findet sich ein Zitat des 1980 verstorbenen Autors Thaddäus Troll: „Wer in der Schule nicht Schwäbisch schwätzte, wurde so lange verhauen, bis er von seinem Hochdeutsch abließ.“ Un d man liest den Satz aus einem Fremdenführer von 1869: „Der Cannstatter benimmt sich gegen den Fremden so, dass Letzterer, wenn er nur will, sich schnell heimische n fühlen wird.“
Die meisten Ausländer auf Cannstatter Gebiet leben heute im Hallschlag, 40 Prozent der 7000 Einwohner. Bevor ich im herrlich wilden Kurpark Luft geholt und mich rund um den Kirchhof umgesehen habe, war ich im Hallschlag. Einem der Stadtteile, in dem zurzeit Flüchtlinge untergebracht werden. In der Lübecker Straße und in der Dessauer Straße, nur Minuten von der Haltestelle der noch jungen Linie 12 entfernt, ist eine unheilvolle Situation entstanden: Mehrere Wohnblock s wurden vom Besitzer, der städtischen Immobilienfirma SWSG, zum Abriss freigegeben. Erbaut in den Fünfzigern, Ende der Achtziger saniert. Neue, „attraktive“ Wohnungen mit höheren Mieten sollen hochgezogen werden. Die bisherigen Bewohnen mussten bereits oder müssen bald ausziehen. In ihren Räumen wurden und werden bis zu m Abriss im kommenden Jahr Flüchtlinge untergebracht. Bei vielen ist der Eindruck entstanden, sie müssten nur wegen der Flüchtlinge gehen. Und nicht aufgrund der „Stadtteil-Aufwertung“, der Gentrifizierung. Sie können das nicht verstehen. Da s Gefühl von Ungerechtigkeit fördert die Fremdfeindlichkeit. Ich unterhalte mich mit zwei Frauen, beide müssen umziehen, bekamen Ersatzwohnungen in der Gegend. Eine von ihnen ist a lleinstehende Mutter mit drei Kindern, muss mit 50 Quadratmetern und einem Ofen z urechtkommen. „Ja, wenn man alle Flüchtlinge zu uns reinlässt …“, sagt sie. Ich frage die Frauen, ob sie eine Vorstellung hätten, wie viele Flüchtlinge gerade in Stuttgart lebten. „Fünfzigtausend“, sagt eine. „Keine viertausend“, sage ich. „Dann ist das was anderes“, sagt sie. – Ein Beispiel dafür, wie sich die „Menschenflut“-Propaganda in den Köpfe n festgesetzt hat.
Härtefälle im Hallschlag sind keine Seltenheit. Herrn S., seiner Frau und seinem Sohn drohte die Stadt mit der Zwangsräumung ihrer Sozialwohnung; sie lebten seit 15 Jahren im Hallschlag. Im Schreiben des Sozialamts heißt da s: „Beendigung des Nutzungsverhältnisses in Ihrer Fürsorgeunterkunft“. Nachdem die Familie die nach ihrem Urteil unzumutbaren Ersatzunterkünfte abgelehnt hatte, wurde ihr mitgeteilt, man könne sie innerhalb von zwei Wochen „zwangsweise … ausweisen“, auch „wenn Sie bis zum … keine Wohnung gefunden haben“. Die Familie ist inzwischen im Süden der Stadt untergebracht, die neue Unterkunft kleiner als die alte. Das Ehebett passt nicht rein. Das Ganze wäre weit weniger glimpflich abgelaufen, hätte sich nicht wie so oft die Mieterinitiative Hallschlag eingeschaltet. Ich wechsle ein paar Worte auf Englisch mit einer Mutter aus Nigeria, gerade erst aus dem Flüchtlingsheim Heumaden umquartiert, plaudere mit syrischen Männern, der Jüngste kann Deutsch. Sie bringen Kaffee. Zu viert wohnen sie in einer kleinen Wohnung, demnächst werden noch zwei weitere Landsmänner einziehen. Ich lerne schnell: Nur nicht fragen, was morgen ist. Die Gegenwart ist schwer genug, das Morgen weiter weg als der Mond überm Neckar.
Im schön über dem Tal gelegenen Hallschlag im Nordosten der Stadt ist alles im Umbruch. Ein neuer Stadtteil wird entstehen, Quartiere für Leute, die wesentlich mehr Geld haben als der Großteil der jetzigen Bewohner. Und es wird noch mehr „dramatische Szenen“ geben, Tränen, von denen mir eine Betreuerin auf dem Aktivspielplatz, dem Aki Hallschlag, erzählt. Die Aki-Kinder kommen aus viel en Nationen. Einige von ihnen müssen wegen der Häuserabrisse wegziehen, verlieren ihre Heimat-Hallschlag, ihr Lebenszentrum.
Und schon bald könnte eine weiterer Konflikt bevorstehen: Eine Wiese zwischen dem Aki und der Dessauer Straße ist für SWSG-Neubauten verplant, gehört aber dem Dracheninsel e. V., dem Trägerverein des von der Stadt geförderten Abenteuerspielplatzes.
Es wird sich viel verändern in der Stadt, von der ich noch vieles nicht weiß.